Frankfurter Zeitung 17.12.1918 – Aktualisiert am 17.12.2018
Im Städtchen Colmar in Elsaß-Lothringen, spielen sich schlimme Szenen ab. Unter dem Spott ihrer Mitbürger zwingen französische Militärs deutsche Bewohner zur Ausreise.
Nachdem Straßburg die Ausweisung Deutscher oder deutschgesinnter Elsässer in der den neuen Kulturformen entsprechenden Aufmachung an der Kehler Rheinbrücke erleben durfte, konnte Colmar, die politische Metropole ehemals Elsaß-Lothringens, in einer das Schaubedürfnis der Massen so eminent befriedigenden Angelegenheit natürlich nicht zurückbleiben. Zwar hatte das weinfrohe Colmar das Vorrecht, zwei Tage nach dem Einzuge der französischen Truppen ein regelrechtes Pogrom zu veranstalten, in dessen Verlauf ein rundes Dutzend deutscher Geschäftshäuser, darunter neun jüdische, geplündert und eines davon nach seiner Plünderung in Brand gesteckt wurde, so daß die Steuerzahler das zweifelhafte Vergnügen haben werden, eine Million Sachschäden rückvergüten zu müssen.
Es war ein offenes Geheimnis, daß hinter diesem von den unsaubersten Elementen durchgeführten Raubzug klerikal-nationalistische Kreise standen, die neben der Befriedigung ihres Deutschenhasses gleichzeitig dem Konkurrenten den Aufenthalt leidig machen wollten. Da sich die französische Verwaltung aber nicht sofort rührte, um den Wünschen dieser Kreise zu entsprechen, so wurde die Oeffentlichkeit durch eine Reihe von Flugblättern mobil gemacht, in denen die umgehende Ausweisung aller Eingewanderten, die Entfernung aller deutschgesinnten Elsässer von ihren Beamtenposten und ihr Abschub über den Rhein gefordert wurde. Diese von einer „demokratischen Liga für Menschenrechte“ ausgehende Agitation verfehlte ihre Wirkung nicht. Am 7. Dezember, 12 Uhr mittags, hatten 40 Familien den Befehl auf dem Tisch liegen, als „sujets allemands“ ihre Vorbereitungen zu treffen, innerhalb von 24 Stunden das Land zu verlassen. Es war gnädigst gestattet, insgesamt 60 Kilogramm Gepäck mitzunehmen, alles andere Hab und Gut mußte zur Verfügung des neuen Machthabers zurückgelassen werden.

Als Abmarschort war eine des Sonntags als Durchgangsstelle besonders beliebte Allee am Denkmal des Colmarer Bildhauers Bartholdi bestimmt und eine geschickte Regie hatte es verstanden, Tausende der Colmarer Citoyens und Citoyennes, den ganzen vornehmen und niederen Pöbel, auf die Beine zu bringen, um wehrlosen Opfern ihrer Gesinnung Abschiedsgrüße zu übermitteln. Ein schwacher Kordon von Soldaten sperrte zunächst die nach und nach Eingetroffenen von der Menge ab. Jede Familie wird mit freundlichem Geheul empfangen, aus dem sich einzelne Schimpfworte lösen. Geschäftig eilen die Organe der öffentlichen Sicherheit hin und her, die Namen der zum Abschub Bestimmten werden verlesen, worauf sie in dem von der gaffenden und schreienden Meute umsäumten Hof des katholischen Jünglingsvereins geführt werden, wo die Untersuchung des Gepäcks und im ungeheizten schmutzigen Vereinslokale selbst die körperliche Untersuchung der Frauen, Mädchen und Kinder nach Gold oder verdächtigen Papieren erfolgt.
Für immer festgehalten
Damen der besten Gesellschaft klerikalnationalistischen Gepräges geben sich zu diesem Schergendienste her, eine Anzahl französischer Soldaten und ein Jüngling von 25 Jahren bilden hierbei die Aufsichtsinstanz. Zwei der kleinsten Kinderchen im Alter von zwei und einem Jahre müssen in dem kalten Raume vollständig entkleidet werden. Mit Ruhe und Würde finden sich die Frauen in das Unvermeidliche, kalt und gelassen öffnen die Männer ihre Gepäckstücke. Der Hof hat sich inzwischen mit den Spitzen der Gesellschaft gefüllt, französische Offiziere lassen sich die Ausgewiesenen und ihre Eigenschaften schildern, Hansi alias Jean Jacques Waltz macht in Kapitänsuniform Skizzen, ein Photograph nimmt, unterstützt von Amateuren, in Dutzenden von Aufnahmen das denkwürdigste Bild auf.
Dann rollen schwere Lastautomobile in den Hof, das Gepäck wird verstaut und auf kleinen Leitern hinaufsteigend, beginnen die Wagen, die vor Schmutz starren, die Verfehmten aufzunehmen. Die Schuljugend intoniert, von einem Offizier der Chasseurs alpins geleitet, die Marseillaise und das schöne Liedchen „Vive la France, merde la Prusse, d‘ Schwowe muen zum Ländle nüß“, bilden den noch passablen Beginn der Verabschiedung. Mit dem Knattern des ersten abfahrenden Wagens erhebt sich indessen ein ohrenbetäubendes Geheul der Menge, die unter wildem Toben auf die Fuhrwerke eindringt, wobei die Soldaten sich völlig passiv verhalten. Es regnet Sand und Schmutz auf die Bedauernswerten, Steine werden in die Wagen geschleudert, in Düten bereitgehaltener Menschen- und Pferdekot fliegt umher, eine Anzahl der Ausgewiesenen wird mit Stöcken geschlagen und angespien und als einer der so behandelten – ein Rechtsanwalt, der vier Jahre als Geisel in französischer Gefangenenschaft gehalten worden war – die Ruhe verliert und dem Mob die Worte zuruft: „nous reviendrons“, wird er von Offizieren aus dem Gefährt gerissen, verprügelt und als verhaftet erklärt. Frau und Kinder müssen ohne ihn ihre furchtbare Fahrt antreten. Nicht genug damit, die Abfahrt zu einem Schauspiel häßlichster und verwerflichster Art, zur Weckung der niedersten Instinkte eines den Franzosen als den Machthabern servil schmeichelnden Volkes gestaltet zu haben, wird die Fahrtrichtung langsam durch die belebtesten Straßen genommen, wo sich an verschiedenen Stellen das gleich Spiel wiederholt.